Flüchtlinge

von Corinna Habeck und Hendrik Meisel

 Machmoud hat sein gesamtes Erspartes ausgegeben. Mitten in der Nacht erhält er dann den erwarteten Anruf: Er soll zu einer abgelegenen nordafrikanischen Bucht kommen. Die Tasche mit den wenigen Habseligkeiten steht schon gepackt bereit. Ein kleines Album mit Fotos von der Familie, zwei T-Shirts, zwei Hosen, Unterwäsche und das Bild, das ihm seine kleine Nichte gemalt hat. Es zeigt ihn auf einem Boot auf dem offenen Meer. Oben drüber steht „Bon voyage" – „gute Reise“. Und eben diese Reise beginnt für Machmoud in diesem Moment. Die gesamte Familie hat Geld dazugegeben – eine Schuld, die er, sobald er Europa erreicht, versuchen muss abzubezahlen. Das Boot in der abgelegenen Bucht sieht nicht so aus, wie es seine Nichte gemalt hat. In einem Kahn, den man kaum als hochseetauglich bezeichnen würde, geht es los. Es ist eine Reise ins Ungewisse. Eine gefährliche Überfahrt, ein langer Weg bis zum ersehnten Ziel, ein Aufbruch in ein neues Land. Wird alles gut gehen? Wird er das andere Ufer erreichen? Wie wird er im fremden Land aufgenommen? Alle Hoffnungen der Familie, die er zurücklassen muss, liegen bei ihm. Alle hoffen auf eine bessere Zukunft, für Machmoud, aber auch für seine Familie in Nordafrika. Der Traum von einem besseren Leben. Nicht ahnend, dass sein Weg ihn vermutlich zuerst in ein überfülltes Aufnahmelager führen wird.
Wie fühlt es sich wohl an, wenn die Hoffnung und Verantwortung der ganzen Familie auf einem lastet? Wie geht es Machmoud, bei dem Gedanken allein in ein fremdes Land zu kommen, mehrere 1000 Kilometer entfernt von seiner Familie. Wer weiß, wann er sie wiedersehen kann. Nichts wird ihm in einer neuen Heimat vertraut sein. Bei allen Problemen wird er alleine da stehen. Er kann nicht mal eben seine Familie anrufen und um Rat fragen oder ihnen von seinen Erfahrungen berichten – nicht seine Eltern, nicht seine Großeltern, nicht seine Geschwister. Etwas, das bei uns vollkommen normal und alltäglich ist.  Egal ob Hilfe bei der Einkommenssteuererklärung erforderlich ist oder beim Kochen, ob die Freude über eine schwere bestandene Prüfung geteilt werden möchte oder der Ärger mit dem Vermieter, wir können jederzeit schnell Kontakt zu unserer Familie aufnehmen. Die Unterstützung und Erreichbarkeit unserer Familie wird so zu etwas für uns Selbstverständlichem.
Und doch hört man aus Gesprächen meist eher negative Dinge über die Familie heraus: Eine Jugendliche möchte endlich mal entgegen des elterlichen Willen, länger abends wegbleiben dürfen. Eltern streiten sich mit den Großeltern über die richtige Erziehungsmethode. Ein Student beschwert sich, dass die Mutter diese Woche schon zum dritten Mal angerufen hat. Streitigkeiten mit der Familie sind für Adschmal (siehe Reportage) oder Machmoud, die beide eine Flucht nach Deutschland und die Aufgabe ihrer Familie hinter sich haben, vollkommen unverständlich. Doch erst durch solche Geschichten wird es wieder sichtbar: Danke, lieber Gott, für unsere Familien und die Geborgenheit, Liebe und Unterstützung von ihnen, die wir unmittelbar erfahren können. Hilf uns, für uns Alltägliches wieder mehr wertzuschätzen und zu beachten.  
Und vielleicht helfen all´ diese Gedanken auch, die Flüchtlingsproblematik aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Natürlich geht es immer um Quoten und um Kosten, Aspekte die von Politikern und Behörden sicherlich auch nicht völlig außer Acht gelassen werden können. Aber hinter den Quoten stehen immer Menschen, die ihre Familie zurücklassen und alleine in ein fremdes Land – unser Land – kommen. Und wir Bewohnerinnen und Bewohner Deutschlands können uns dies bewusst machen, die Menschen hinter den Zahlen sowie den eigenen Ängsten und Unsicherheiten sehen und unser Herz öffnen.
Ich gebiete dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder, der bedrängt und arm ist.
Amen.                                                 (5.Mose 15,11)

In diesem Sinne wünschen wir euch nun eine spannende, herzliche und produktive gemeinsame EJKW 2014.