Adschmal

"Ich habe mir immer gesagt - Gott wird mit helfen!"

51,2 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Mit 2,5 Millionen Menschen führt Afghanistan die Liste der Herkunftsländer der Flüchtenden an. Hunger, Armut, Bedrohung, Naturkatastrophen oder Krieg veranlassen Menschen ihre Heimat aufzugeben und in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen. Doch was sind Zahlen, ohne die Geschichte der Menschen dahinter zu kennen. Für juenger-NEWS erzählt Hendrik Meisel die Geschichte von Adschmal, der im Alter von 13 Jahren aus Afghanistan fliehen musste.

 

Durch die staubigen Straßen von Kunduz in Nordafghanistan fährt ein Auto älteren Baujahres. Staub und Sand werden aufgewirbelt. Das Ziel ist das Lebensmittelgeschäft von Abdul Mohammed. Noch vor sieben Jahren verkaufte er Autos und Autoteile vor allem an die Taliban. Doch seit sich die politische Lage in Afghanistan verändert hat, möchte Abdul Mohammed mit den Taliban nichts mehr zu tun haben. Er hat umgesattelt, verkauft nun Lebensmittel, um seine Frau und die neun Kinder zu versorgen. An diesem Tag im Jahr 2009 jedoch stehen sie wieder in seinem Geschäft. Sie sind vermummt mit Tüchern und Masken und fordern ihn letztmalig auf, wieder sein Geschäft für und mit den Taliban aufzunehmen. Doch Abdul verneint. Was nun folgt sind Bedrohungen und Beschimpfungen, es geht um sein Leben. Wenige Tage später ist Abdul Mohammed tot. Er wurde von den Taliban in Kunduz erschossen. Seine Frau und seine Kinder waren auf der Hochzeit eines Onkels, er blieb krank zuhause. Seine Angehörigen erfuhren erst Tage später davon, aus Rücksicht wollten die Nachbarn und Verwandten es nicht erzählen und sie von zuhause fernhalten. Die Verantwortung für die Familie und das geführte Lebensmittelgeschäft geht nach alter Tradition auf Adschmal Hassan, den ältesten Sohn der Familie, über. „Auf einmal hatte ich die Verantwortung für die Familie, und das Geschäft“, sagt er heute, und damit für das Einkommen. Damals war er gerade 14 Jahre alt geworden und zwischen Trauer, Wut und Verzweiflung nun auch noch mit dieser Aufgabe betraut. Ein täglicher Kampf zwischen familiärer Verantwortung, ökonomischem Druck und dem Erwachsenwerden begann. Es dauerte keinen Monat, da standen die Taliban auch bei ihm im Geschäft. Er solle den Platz seines Vaters einnehmen und bloß nicht den selben Fehler machen.

Flüchtenden am Fuße eines Berges ab. Der von den Schleppern beauftragte Anführer der Gruppe führt sie plan- und orientierungslos in die Berge. Irgendwann erreichen sie ihr Ziel, Chederk im Iran, wo Adschmals Tante lebt.

17 Tage ist er, seit er Kunduz verlassen hat, schon unterwegs. Hier bei seiner Tante kommt er ein paar Tage unter. Die Mutter muss nämlich noch den restlichen Betrag der 12.000 $ zahlen, damit die Flucht weitergehen kann. Der neue Treffpunkt ist Teheran, Irans Hauptstadt. Über die Türkei soll es weiter nach Europa gehen. Mit PKWs wird er mit anderen nach Urmia, in die Grenzregion zwischen der Türkei und dem Iran gebracht. Auch hier wird wieder ein passender Moment gesucht und eine eintägige Wanderung steht bevor. Doch schon der erste Versuch wird nach fünf Stunden abgebrochen, es sei nicht sicher. In Urmia leben sie in einem Haus, das die Schlepper angemietet haben. Es sind Kurden, die in diesem Haus Flüchtlinge mehrerer verschiedener Schlepperbanden unterkommen lassen. Mit 14 Jahren ist Adschmal der Jüngste hier. Dieser Umstand macht ihm den nächsten Versuch in die Türkei zu kommen um so schwerer. Schnee- und Eisregen sind die Begleiter für die nächsten 24 Stunden und diesmal schaffen sie es über die Grenze.
In Sicherheit ist aber noch niemand des Flüchtlingtracks. In rund 3000 Metern Höhe im Eis- und Schneesturm können zwei 43-jährige Erwachsene aus Pakistan nicht mehr weiter laufen. Der Anführer, ein von den Schleppern bezahlter Iraner, ist gnadenlos. Wer nicht weiter kann, wird zurückgelassen. Die anderen Flüchtenden diskutieren, dass man keinen Menschen zurücklassen darf, doch am Ende entfernt sich die Gruppe immer weiter von den beiden Pakistanis, die nass und durchgefroren auf dem Bogen liegen und ihrem Schicksal entgegen schauen. Für die einzelnen Anführer geht es um ihr eigenes Leben und sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie alles tun würden, um nicht zu sterben oder im Gefängnis zu landen. Sie werden angeheuert und für einzelne kleine Teilstrecken bezahlt. Auf diesen Strecken sind sie dafür verantwortlich die Flüchtenden zum nächsten Punkt zu bringen. Unterwegs lernt Adschmal zwei Iraner kennen, die wie er nach Europa wollen. Auf einmal fallen Schüsse und schlagen neben ihnen ein. Der Track ist von der türkischen Armee entdeckt und unter Beschuss genommen worden. Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass niemand getroffen wird. In dieser Nacht können sie entkommen und kommen in einem kleinen Bauerndorf auf türkischer Seite unter. Komplett nass, durchgefroren und halb verhungert überlebt er nur mit der Hilfe seiner beiden iranischen Bekannten. Nach mehr als zwei Monaten Flucht hat er hier das erste Mal per Telefon Kontakt mit seiner Mutter. Die Ungewissheit, ob Adschmal es bis in die Türkei geschafft hat, fraß sie fast auf. Sein Handy wurde ihm schon zu Beginn der Flucht abgenommen.
Noch in dieser Nacht geht es zu Fuß weiter nach Van. Es ist immer noch kalt und schneit, sie überwinden viele Kilometer und umlaufen viele Polizeistationen, bevor sie in Van ankommen. Hier muss Adschmal, der gläubiger Muslim ist, in einem Stall mit Schweinen übernachten. „Ich habe fünf Tage kaum was gegessen und nur geweint.“ Für Muslime sind Schweine unrein und nun muss er mit ihnen auf engstem Raum leben. Nach fünf langen Tagen wird er mit einem kleinen Transporter abgeholt, in den sich knapp vierzig Menschen quetschen. Plötzlich müssen sie aussteigen, einen Berg überqueren und wieder werden Menschen zurückgelassen. „Ich bekomme diese Situation nicht aus meinem Kopf“, sagt Adschmal.

Ein alter Mann, der auch Pashto sprach, bittet Adschmal bei ihm zu bleiben, weil er nicht mehr weitergehen könne. Wenige Schritte später rutscht er den Berg hinunter und war nie mehr gesehen. Trauer und Leid durchfließen Adschmal, er weint und wird von dem neuen Anführer dafür hart geschlagen. Nach der Überquerung des Berges und nach 24 Stunden Fußmarsch erwartet sie der gleiche Transporter, der sie zuvor abgesetzt hatte. Er konnte alle Polizeikontrollen auf dem Weg problemlos durchqueren. Es folgen 18 Stunden Autofahrt, eng eingequetscht mit wenig Luft und Nahrungsmitteln. „Istanbul“ schreit plötzlich jemand und mit letzter Kraft rappelt sich Adschmal auf. Er blickt durch das Fenster des Transporters und die Dächer der Stadt tauchen vor seinen Augen auf.
Wieder geht es in ein Haus, wo schon Menschen von verschiedenen Schleppern warten. Das ganze System ist komplett durchorganisiert. Einzelne Menschen werden für einzelne Funktionen beauftragt, niemand kennt das gesamte System und den kompletten Ablauf. Oft sind es nur wenige Dollar, für die Menschen einen Flüchtlingstrack über die Grenze führen oder einen Transporter mit Flüchtenden durch ein Land fahren. Aus diesem Haus soll er wieder abgeholt werden, doch sein Schlepper kam nicht. Erst nach einigen Tagen ist dann auch für ihn ein Weiterkommen möglich. Zusammen mit 38 anderen wird er in einen Hohlraum eines Wassermelonentransporters verladen und die Bodenluke hinter ihnen wieder verschweißt. Für die nächsten fünf Tage mussten alle mit einem Minimum an Platz, Wasser und Brot auskommen. Die Toilette müssen sie in Flaschen verrichten, was gerade für die Frauen ein großes Problem darstellt. Ein Mitglied der Schlepperbande wird ebenfalls hinten im Hohlraum untergebracht. Er bekommt per Handy Anweisungen, wenn zum Beispiel eine Polizeistation, Grenze oder Kontrolle zu passieren ist. Im Zweifelsfall sorgte er mit Gewalt für Ruhe. „Es war unerträglich, man hatte Durst, Hunger und Schmerzen“. Oft kommt ihnen der Gedanke bei der nächsten Polizeistation oder Kontrolle einfach zu klopfen und Hilfe zu holen, doch das lässt ihr Aufpasser nicht zu. Gemeinsam mit Kurden, Arabern, Syrern, Iranern und Afghanen harrt er fünf Tage aus.
„Es war ihnen egal, ob jemand stirbt, Hauptsache der Rest kommt an“, sagt Adschmal heute. Kurz hinter der Grenze nach Deutschland zwingen sie dann den Aufpasser, sie raus zulassen. Mitten in einem Waldstück in der Nähe von Bautzen wurde der Hohlraum wieder aufgeschweißt. Blind von fünf Tagen Dunkelheit und betäubt von den Schmerzen, der krampfhaften Sitzhaltung und den vielen Entbehrungen sitzen sie mit dem Rücken an Bäumen und bewegen sich für die nächsten Stunden nicht. Die ersten deutschen Worte, die Adschmal hört, sind „Hände hoch!“ Er blickt in die Mündung einer Pistole, die eine deutsche Polizistin auf ihn richtet. Hubschrauber kreisen über ihnen. Gemeinsam mit seinem Freund Najib und einigen anderen hat er die Nacht hier an den Bäumen verbracht. Wenig unterscheidet sich gerade von den Momenten im Iran, in der Türkei oder an einem anderen Ort seiner Flucht. Ihm ist kalt, der Hunger und Durst bringen ihn fast um den Verstand. Überall in diesem Waldgebiet liegen Kleidungsstücke, die die Flüchtlinge ausgezogen und gegen neue getauscht haben. Nach kurzer Klärung der Situation wird Adschmal besser behandelt. Keine zwölf Stunden später befinden sich alle Flüchtenden aus dem Melonentransporter in einer Sammelzelle in einer Polizeistation, sowohl die, die im Wald sitzen geblieben waren, als auch die, die versuchten sich in neuer Kleidung alleine durchzuschlagen. Endlich gibt es Essen, alles in Einzelportionen in Plastik verschweißt, wie aus dem Flugzeug. „Ich kannte das nicht, dazu hatte ich Angst, dass evtl. Schwein oder Alkohol enthalten sein könnte.“ Die nächsten Stationen sind verschiedene Erstaufnahmeeinrichtungen in Bautzen und Chemnitz. Über mehrere Umwege kommt er ins zentrale Ruhrgebiet, wo er als minderjähriger-unbegleiteter Flüchtling in einer speziellen Einrichtung untergebracht wird. Sechs Monate lang darf er keinen Fuß alleine auf die Straße setzen. Sein Aufenthaltsstatus ist lange nicht geklärt.