Einfach vertrauen

Einfach vertrauen?

Juli 2015. Die erste Sommerfreizeit in der neuen Gemeinde, wo ich seit einem Dreivierteljahr arbeite. Wir sind in Kroatien. Tagsüber ist es brütend heiß und wunderbar sonnig. Nachts wird es nur etwas kühler und das laute Zirpen der Zikaden erfüllt die Luft.
Klar, dass sich unsere Gruppe nach Abkühlung sehnt und wir uns immer wieder auf den Weg zur nahegelegenen Küste der Adria machen.
Als wir am Ende eines Strandtags wieder aufbrechen wollen, klingelt das Handy. Unser Freizeitkoch, der mit dem Küchendienst und einer Teamerin schon voraus zum Haus gegangen ist, ruft an. Er sagt, dass wir lieber noch am Strand bleiben sollen. Auf der Straße neben unserem Freizeithaus sei ein Mensch ums Leben gekommen...

Ein Familienvater aus Deutschland, der mit Frau und Kindern in einem Appartement nebenan Urlaub machte, ist aus dem Haus auf die Straße gekommen, um etwas aus dem Auto zu holen - dann ist er einfach umgekippt und war tot. Schrecklich!
Der Verstorbene liege noch auf der Straße, die Polizei und Rettungskräfte seien vor Ort, sagt unser Koch.
Wir versuchen also, unseren Strandaufenthalt zu verlängern, aber dummerweise hatten wir schon zum Aufbruch aufgerufen und alle wollen nun auch zurück, duschen und dann etwas essen. Der Tag war lang und anstrengend.
Was tun?
Ich telefoniere nochmal mit dem Koch. Er klärt mit den Polizisten, dass ein Sichtschutz vor den noch immer am Boden liegenden Mann gehalten wird, wenn wir mit der Gruppe vorbeikommen.
Dann informieren wir die Gruppe über das, was geschehen ist, und gehen langsam und ungewöhnlich still los.
Wir kommen heile im Haus an, wo uns aufgeregte Jugendliche (Küchendienst) und Mitarbeitende erwarten. Einige haben den leblosen Mann auf der Straße liegen sehen, sind verstört und aufgeregt. Manche weinen.
Schnell ist klar: Dieses schreckliche Ereignis in unserer direkten Freizeitnachbarschaft lässt aus unserer Gruppe niemanden kalt. Die Gruppe ist aus der Spur geraten, es fehlt an Sicherheit.
Ich möchte die Gruppe auf keinen Fall "einfach rumölen" und mit den Ereignissen alleine lassen. Also rufe ich alle zu einem verbindlichen Treffen zusammen: "Wir treffen uns in 20 Minuten im Tagesraum, duschen dürft ihr dann später, wenn ihr es bis dahin nicht geschafft habt."
Ich möchte eine Andacht mit der Gruppe feiern. Aufkommender Trauer einzelner Jugendlicher (einige haben (kürzlich) Trauerfälle in ihrer Familie erlebt) Raum geben, unsere Hilflosigkeit und Fassungslosigkeit vor Gott bringen. Das wird uns helfen, wieder zurück in den "Freizeitalltag" zu finden.
„Was willst du denn sagen?“ fragt mich eine Teamerin. Gute Frage! Ich habe keinen konkreten Plan.
Eine konkrete inhaltliche Vorbereitung ist so spontan nicht machbar.
Ich gehe kurz in mein Zimmer, wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser und bete.
Große Worte mache ich nicht. Ich bitte Gott einfach um Beistand, um Nähe und um die richtigen Worte, die er mir geben muss.
Dann blättere ich relativ wahllos in meinem Ordner „Texte für Krisensituationen“ herum und finde nichts wirklich Passendes.
Ich nehme schließlich einfach den ganzen Ordner mit runter.
Einen wirklich konkreten Plan habe ich noch immer nicht.
Also bleibt mir nur eines: Einfach vertrauen, dass mir die richtigen Worte gegeben werden. Dass unser Beisammensein uns gut tut und stabilisiert und dass Gottes Geist uns leitet.
Ich weiß nicht mehr, was ich genau gesagt habe, welche Worte Gott mir in der Situation gegeben hat.
Ich weiß auch nur noch, dass ich doch einen Text aus dem Ordner gelesen habe, bloß welchen?
Aber ich erinnere mich an die sehr intensive und vertrauensvolle Atmosphäre, an das wohltuende Zusammengehörigkeitsgefühl und die gemeinsam ertragene Hilflosigkeit und Trauer.
Und ich erinnere mich, dass ich mich total sicher und getragen gefühlt habe. Vertrauen lohnt sich!
„Deine Worte haben mich sehr berührt.“ sagt dieselbe Teamerin abends in unserer Reflexionsrunde. „Hattest du das irgendwie grundsätzlich vorbereitet?“
„Nein.“, sage ich, „Ich habe gesagt, was ich spontan in den Mund gelegt bekommen habe.“
Nachts im Bett komme ich endlich richtig zur Ruhe. Ich bete für die Familie des Verstorbenen, für unsere Gruppe und die Freizeit und darum, dass wir wieder in den Alltag finden. Und ich danke Gott für seine Begleitung und Kraft, weil ich neben all der Tragik und Trauer auch um eine wichtige Erfahrung reicher bin.

Eine Geschichte von Christian Weber