Mehr als nur Zuschauer: junge Menschen als tragende Säulen in der Kirchengemeinschaft
Ein Schlüsselerlebnis
Es ist es so weit: An ihrem 18. Geburtstag wird Gruppenleiterin Jule aus Witten an der Ruhr der Schlüssel zum Gemeindehaus überreicht. Schon länger ist sie Leiterin des Offenen Treffs, der jeden Montag nach der Teamer-Schulung im Gemeindehaus zusammenkommt. Nun darf sie auch eigenverantwortlich den Raum auf- und zu schließen und Gruppenstunden ohne eine erwachsene Person im Jugendtrakt durchführen. Diese nun auch sichtbare Verantwortungsübernahme ist für sie ein Schlüsselmoment, wie sie noch Jahre später, längst langjährige Presbyterin in ihrer Kirchengemeinde, erinnert. Sie steht symbolisch für die gelungene Teilhabe am kirchlichen Leben: Jule ging durch die verschiedenen Etappen der evangelischen Jugendarbeit hindurch: Nach der Konfirmation wirkte sie schnell als Teamerin bei Freizeiten und im Jugendgottesdienst mit. Im Alter von 18 Jahren wurde sie Jugendausschussmitglied, leitete diesen für eine zweijährige Amtsperiode und engagierte sich seit ihrem 19. Lebensjahr im Presbyterium. Durch sie haben wiederum eine große Zahl an Jugendlichen im gemeindlichen Leben ein Zuhause und einen Ort gefunden, an dem sie ihre Jugendzeit gestalten können und selbstwirksame Erfahrungen machen können.
Eine echte Erfolgsgeschichte für Kirche! Zufall?
Kirchenwahl und Jugendbeteiligung
Am 18. Februar finden in der EKvW Presbyteriumswahlen statt. In den Wochen darauf konstituieren sich dann die neuen Presbyterien. Wie bereits vor vier Jahren werden auch eine Reihe junger Menschen unter 27 Jahren gewählt werden, damals waren das rund 120 junge Menschen in 450 Presbyterien. Eine junge Kirche mit einer breiten Beteiligung von Menschen aller Generationen sieht anders aus.
Untersuchungen und Erfahrungen aus anderen kirchlichen Organisationen zeigen, dass eine diversifizierte Führungsebene, die verschiedene Altersgruppen einbezieht, zu innovativen Lösungen und einem fruchtbaren Austausch von Ideen führen kann. Der Lutherische Weltbund setzt mit seinem Ziel, 20% junge Menschen in Leitungsgremien einzubeziehen, einen vielversprechenden Maßstab. Diese Initiative hat nicht nur symbolische Bedeutung, sondern trägt auch dazu bei, die Kirche an die sich verändernde Welt anzupassen.
In der westfälischen Landeskirche wurde vor diesem Hintergrund im Juli 2021 das Jugendbeteiligungserprobungsgesetz (JBEG) eingeführt: Jede Kirchengemeinde in Westfalen, jeder Kreissynodalvorstand und auch die Kirchenleitung beruft ein zusätzliches stimmberechtigtes Mitglied im Alter zwischen 18 und 27 Jahren in ihr Gremium, um junge Perspektiven in Kirche stärker zu berücksichtigen.
Die bisherigen Erfahrungen sind gut. Junge Menschen wollen sich wirksam engagieren. Unsere Kirche wünscht sich neue Impulse. Das passt doch gut zusammen. Oder?
Wir als Erwachsene haben dabei die Verantwortung, aus diesem Ansatz eine Erfolgsgeschichte zu machen. Das bedeutet nicht nur, dass wir offen für die Ideen der jungen Leute sein sollen, sondern auch eine Anpassung unserer bestehenden Vorstellungen darüber erfolgen muss, wie Entscheidungsprozesse in der Kirchengemeinde gestaltet werden sollten.
Was trägt nun zum gelingenden Engagement junger Menschen in unserer Kirche bei und was können wir als der Kirche verbundene Menschen tun, um jungen Erwachsene die Tür zur Beteiligung in unserer Kirche zu öffnen?
Jung, engagiert und eigenwillig - Jugendliche und junge Erwachsene als Teilhaber*innen
Ein Fachtag des Amtes für Jugendarbeit der EKvW zum Thema "Jung, engagiert und eigenwillig – Die Zukunft der Kirche?!“ im Februar 2019 in Haus Villigst/Schwerte brachte einen der wichtigsten Faktoren für eine gelingende und segensreiche Jugendarbeit auf den Punkt: „Nur wenn es gelingt, junge Menschen auf allen Ebenen zu Akteuren kirchlichen Handelns werden zu lassen, werden diese die Kirche der Zukunft bilden.“
(Selbst)Wirksamkeit als Schlüssel zu einer gelingenden Lebenserfahrung
Es ist ein Gütesiegel evangelischer Jugendarbeit, junge Menschen an Meinungsbildung und Entscheidungen in Bezug auf Themen, die sie betreffen, zu beteiligen und zu Akteur*innen in eigener Sache zu machen. Partizipation und damit das Erleben von Selbstwirksamkeit ermöglicht Persönlichkeitsentwicklung.
Was für die Jugendarbeit im Speziellen gilt, ist erst recht für junge Erwachsene von Bedeutung. Diese sind mehr als allgemein gedacht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Diese Bereitschaft wird aber durch die Erfahrung von Wirksamkeit auf den Prüfstand gestellt. Echte Partizipation sieht eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe vor. Sie ermöglicht (nicht nur) jungen Menschen Gestaltungs- und Entwicklungsspielräume.
Solche Gedanken haben in der christlichen Geschichte eine lange Tradition: ´Die Christusgeschichte kennt keine Zuschauer´, reflektierte der Theologe Karl Barth in seinem Tambacher Vortrag im Jahr 1919 in Bezug auf die Teilhabe an der Gottesgeschichte, die "in uns und an uns" geschieht.
Paulus ermutigte seinen jungen Mitarbeiter Timotheus mit den Worten: Niemand soll dich geringschätzen, nur weil du jung bist (1. Timotheus 4, 12). Und der Epheserbrief beschreibt in Blick auf die echte Teilhabe von Heidenchristen: So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen (Eph 3,6). Christsein ist von aktiver inhaltlicher, aber auch äußerlicher Teilhabe aller Beteiligten am Leib Christi bestimmt.
Was passiert eigentlich, wenn diese Partizipation nicht stattfindet?
Wenn junge Menschen keine Möglichkeit zur selbstwirksamen Teilhabe am kirchlichen Leben haben, kann dies vernichtende Auswirkungen auf ihre Motivation und ihr Engagement haben. Je weniger sie sich in ihren Anliegen ernst genommen fühlen und eingebunden werden, desto weniger nehmen sie sich selbst als integralen Bestandteil der Kirche wahr. Ergebnis: eine geringere Bindung an die kirchliche Gemeinschaft.
Die Demokratiepädagogik geht davon aus, dass es keine machtfreien Räume gibt. Auch versteht sie Macht nicht als etwas negatives, sondern als Beschreibung von ermöglichendem Handeln. Das Wort Gestaltungs-macht weist den Weg in dieses positive Verständnis. Es geht darum die Macht zu haben, etwas zu gestalten.
Wie für ältere Presbyter*innen gilt dabei, dass wir als Menschen in Verantwortung bei all den Herausforderungen in unserer Kirche eine Weg- und Lerngemeinschaft sein dürfen und auf Unterstützung angewiesen sind. Manche unserer Entscheidungen werden viel Segen bewirken, anderes im Nachhinein anders bewertet werden.
Ein Satz wie “Das haben wir noch nie so gemacht”, gehört auf den Index einer Presbyteriumssitzung. Überhaupt müssen wir die Sprache der jungen Generation neu lernen. Junge Menschen werden eher durch konkrete Themen mobilisiert, die eng mit ihren persönlichen Interessen verknüpft sind. Daher bevorzugen sie Mitwirkungsformen, die weniger formal und als weniger verpflichtend empfunden werden. Bezug auf ihre Aufgaben. Schließlich erscheint der Begriff "Jugendbeteiligungserprobungsgesetz" unglücklich, da es sich bei den Berufenen um Erwachsene handelt. Es ist ratsam, sie nicht automatisch als etwas "Unfertiges" zu betrachten, sondern als vollwertige Gemeindemitglieder. Als diese benötigen sie Unterstützung in ihrer neuen Funktion und bei ihren neuen Aufgaben.
Es erfordert Mut, jede Menge (Gott)Vertrauen, Geduld und Gelassenheit für neue Wege und junge Perspektiven. Es wird nicht immer alles glatt laufen, aber ich kann ihnen versprechen: es lohnt sich. Immer. Fragen sie mal Jule aus Witten an der Ruhr, die weiß, wie es sich anfühlt als junger Mensch aktiver Teil dieser Kirche zu sein. Oder das Kirchenleitungsmitglied Jan. Oder all die anderen jungen Menschen, die mit Freude bereit wären, diese ihre Kirche mitzugestalten und grundlegend zu verändern. Wenn wir sie einfach mal machen lassen würden.
80% der befragten Kirchenmitglieder in der gerade veröffentlichten Kirchenmitgliedschaftsstudie (KMU6) sind übrigens dafür.
Ihr Landesjugendpfarrer Christian Uhlstein
Eine Orientierungshilfe für junge Presbyter*innen wird ab ca. 01.04. unter www.ehrenamt.ekvw.de zur Verfügung stehen.